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Vier Säfte Lehre und das Essen im Mittelalter
Version 1.0
Eine Errungenschaft der Altgriechen ist menschliches Leben in einen kosmischen Zusammenhang zu bringen. Dabei werden die vier Urstoffe Feuer, Wasser, Luft und Erde als unvergänglich und ewig gültig für die Eigenschaft der Welt formuliert. Empedokles von Agrigent (495 v. Chr.) gilt mit dieser Formulierung vom Ursprung der Elemente als Begründer der späteren vier Säfte-Theorie, die von Polybos, der zu Zeiten Hippokrates lebte, als Therapiesystem für Menschen (Humoralmedizin) weiter entwickelt wurde. Gesundheit entspricht danach einer harmonischen Verteilung der vier Säfte Blut (Luft), Schleim (Wasser), schwarze Galle (Erde) und gelbe Galle (Feuer). Die Ausgewogenheit der Säfte bedeutet Gesundheit des Menschen. Krankheiten entstehen durch Störungen dieser Ausgewogenheit. Fehlt eines der Elemente, so kann es durch Zuführen des gegenüberliegenden Elementes ausgeglichen werden. So löscht Wasser Feuer aus und Erde bietet Luft einhalt. Die philosophische Betrachtung von Gesundheit und Krankheit der Griechen ist insoweit beachtenswert, da sie ein Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte formuliert. Diese können nicht willkürlich ineinander übergehen, sondern sind eben unverrückbare Elemente. In gewisser Weise bilden die Vorstellungen von unverrückbaren Elementen eine Revolution in der Götterwelt der damaligen Menschen. Bedenkt man, welche komplexen Beziehungssysteme die griechischen Götter untereinander hatten, wie sehr sich diese bekriegten und wie willkürlich die göttlich verordneten Schicksale waren, so ist die Basis von Krankheit und Gesundheit als Gleichgewicht irdischer Naturkräfte schon eine art naturwissenschaftliche Philosophie. In späteren Zeiten entstehen aus der Gleichgewichtsregel Methoden des Schröpfens oder des Aderlasses, indem ''böses Blut'' aus dem Körper entzogen wird. Aus der mytologischen Sicht der Griechen werden die vier Götter Zeus, Hera, Hades und Nestisals Verantwortlich für die Urstoffe gemacht. Welcher der Götter für welchen Urstoff steht ist umstritten. Der griechische Arzt Galenos (129 bis 199 n. Chr.) erweiterte die Säftelehre auf die Anwendung seelischer Vorgänge. Nach seiner Auffassung führte die falsche Säftemischung zur Entstehung der vier Temperamente heiter, kühn, beharrend und emotional. Zusammenfassende Gegenüberstellung von Säften und Eigenschaften
Saft
(nach Polybos)
Element
(nach Empedokles)
Menschentyp
(nach Galenos)
Organ
Eigenschaft
(nach Galenos)
Geschlecht
Blut
Luft
Sanguiniker
Herz
heiter, feucht, warm
Übergang
gelbe Galle
Feuer
Choleriker
Leber
kühn
männlich
schwarze Galle
Erde
Melancholiker
Milz
beharrend, trocken
Übergang
Schleim
Wasser
Phlegmatiker
Gehirn
unsicher, emotional
weiblich
Die vier Körpersäfte wurden weiter hinsichtlich ihrer Qualitäten jeweils weiter unterteilt unterteilt. So unterschied man beim Schleim etwas flegma salsum, flegma dulce, flegma acetosum und flegma naturale. Durch al-Kindi erfuhr das Schema Galens quantifizierende Ergänzungen und durch Ibn al-Dschazzar nochmals eine Erweiterung für die Anwendungen in der Medizin. Avicenna systematisierte im frühen 11. Jahrhundert die Schriften Galens und nahm mit seinem Kanon der Medizin die Systematik der Scholastik um etwa 200 Jahre vorweg. Im ersten Buch des Kanons schreibt er über die vier Elemente: „Der Arzt muß indes dem Naturwissenschaftler glauben, daß es vier Elemente und nicht mehr gibt, von denen zwei leicht sind und zwei schwer; und die leichten sind Feuer und Luft, die schweren sind Erde und Wasser.“ In seiner Kosmologie nimmt Erde den Mittelpunkt ein. Sie ist das schwerste Element und am unbeweglichsten. Wasser ist leichter als Erde, aber schwerer als Luft. Es gehorcht jeglicher Einwirkung und kann jede Gestalt annehmen. Die Luft hat die Fähigkeit, sich zu erweitern, leicht und dünn zu werden und sich nach oben zu erheben. Das Feuer steht über allen anderen Elementen in der Himmelswölbung, denn es ist so leicht, dass es bis in den Himmel reicht. Über die Wirkung im Körper schreibt Avicenna: „Die beiden schweren Elemente (Erde und Wasser) unterstützen Entstehung und Ruhe der Körperteile oder Glieder; die beiden leichten Elemente (Luft und Feuer) unterstützen Entstehung und Bewegung der Lebensgeister wie auch die Bewegung der Körperteile, wenngleich deren (wirklicher) Beweger allein die Seele ist.“ Avicenna beschreibt äußerst präzise die Komplexionen, d. h. die die Natur des Menschen bestimmenden Mischungsverhältnisse der vier humoralpathologisch postulierten Säfte oder Leibesfeuchten, um Gesundheit und Krankheit zu erklären. Ausgeglichenheit der Komplexionen bedeutet vollkommene Gesundheit, doch ist dies nicht der Regelfall. Für die Gegensätzlichkeit von Wärme und Kälte bzw. Feuchte und Trockenheit gibt er acht Erscheinungsgestalten an. Unausgeglichenheit der Komplexionen unterteilt er ebenfalls in acht Erscheinungsgestalten und gibt stoffliche wie unstoffliche Ursachen dafür an. Er beschreibt sehr genau die Komplexionen der einzelnen Organe und Körperteile, ebenso die verschiedenen Lebensalter und die Geschlechter. Bei den Primärsäften präzisiert Avicenna die Humoralphysiologie Galens: Es kann neben gutem Blut auch überflüssiges, zweitrangiges Blut auftreten. Dieses könne einerseits auftreten, wenn das Blut zu stark erhitzt oder abgekühlt wurde. Andererseits könne das Blut mit einem bösen Saft von außen vermischt worden sein oder der böse Saft ist im Blut selbst entstanden. Hierfür gibt er wiederum zahlreiche Möglichkeiten an und verfährt auch bei den drei übrigen Säften in ähnlicher Weise. Hier widerspricht er auch Galen, der nur das Blut als natürlichen Saft habe gelten lassen. In einer Beschreibung der Qualität der Körpersäfte geht Avicenna auf die Verdauung und Verstoffwechslung ein, ihm zufolge findet die Verdauung zunächst in Mund und Magen, dann in der Leber, in einem dritten Schritt im Blut und letztendlich in den vom Blut versorgten Organen statt. Als Abfall oder Überfluss nennt er Kot für die erste Verdauung sowie Harn für die zweite, wobei ein Rest in Milz und Gallenblase verbleibt. Abfallprodukte der beiden letzten Verdauungen verlassen demzufolge den Körper durch nicht wahrnehmbare Poren der Haut, durch Nase und Ohr, beim Aufbrechen von Eiterknoten sowie durch Zuwachs von Nägeln und Haaren. In West- und Mitteleuropa waren viele Schriften von Hippokrates, Dioskurides oder Galen im frühen und hohen Mittelalter (der Epoche der Klostermedizin) nicht bekannt, da sie nicht in Latein vorlagen. Verbreitet waren u. a. die medizinischen Teile der Naturalis historia von Plinius, daneben die Lehrgedichte Liber de cultura hortorum und Macer floridus. Zwar bildeten die von Galen vertretenen Theorien auch die Grundlage der medizinischen Werke einer Hildegard von Bingen, doch fällt die in ihrer Causae et curae vorgestellte Wiedergabe der Medizintheorie bedeutend einfacher aus als im mehr als 100 Jahre zuvor verfassten Kanon der Medizin. Viele Rezepte entnahm sie wohl der Volksheilkunde und auch Spiritualität spielt bei ihr eine relativ große Rolle (selbst verglichen zur übrigen Klostermedizin). Neben Beziehungen der vier Säfte zu medizinischen Aspekten wurden in Spätantike und Mittelalter auch Entsprechungen zur Theologie, Astrologie, Bildenden Kunst und Musik abgeleitet. So entspricht in der Musiktheorie die phrygische Tonart der trocken-warmen, die mixolydische der kalt-trockenen, die lydische der feucht-warmen und die dorische Tonart der kalt-feuchten Qualität. Durch die Schule von Salerno und die Übersetzerschule von Toledo (Gerhard von Cremona) kamen wichtige arabische Bearbeitungen der antiken Texte in das lateinische Europa. Avicennas Kanon wurde neben Schriften aus Salerno (u. a. Trotula) ab dem 13. Jahrhundert zur Pflichtlektüre an den jungen Universitäten. Mit der Verfügbarkeit der antiken Quellen in der Renaissance (Renaissance-Humanismus) machte sich eine Araberfeindlichkeit breit und Hippokrates wie Galen verdrängten Avicenna an vielen Universitäten. Galens Auffassungen vom Fluss des Blutes wurden erst im 17. Jahrhundert durch William Harvey und Marcello Malpighi und teils gegen erhebliche Widerstände revidiert. Seine Fassung der Humoralpathologie hatte als Krankheitskonzept Bestand bis ins 19. Jahrhundert. Die Schriften beeinflussten die Physiognomik des Johann Kaspar Lavaters und die Ernährungslehre. Im übrigen bezog sich auch Sebastian Kneipp bei seiner Wasserkur auf die Erkenntnisse Galens, nach denen überflüssige oder verdorbene Säfte aus dem Körper abgeleitet werden müssten (vgl. Materia peccans). Schmerzen waren nach der Humoralpathologie darauf zurückzuführen, dass an bestimmten Stellen im Körper ein Übermaß an (meist verdorbenen) Säften vorhanden sei. Bei einer Ableitung dieser Schlackenstoffe verschwinden auch die Schmerzen. Vor allem populärwissenschaftliche Medien lassen in der zweiten Hälfte des 19. eine „Spätphase der Humoralpathologie“ erkennen. Der Teilaspekt des Ausleitens schädlicher Säfte durch das Reinigen (Purgieren) überflüssiger und schädlicher Substanzen findet sich auch in dem modernen Begriff der Humoraltherapie wieder. Humoralpathologie und Esskultur im Mittelalter Das mittelalterliche Verständnis über Ernährung basierte weitgehend auf der antiken Humoralpathologie. Die Humoralpathologie hat damit die Esskultur im Mittelalter stark beeinflusst. Nahrungsmittel wurden als „warm“ oder „kalt“ und „feucht“ oder „trocken“ klassifiziert. Von geübten Köchen wurde erwartet, dass sie die Lebensmittel so kombinieren, dass sich diese Eigenschaften ausgleichen und ergänzen. Auf diese Weise wurden die Körpersäfte im Einklang gehalten. Cholerikern wurde empfohlen, ihre Nahrungsmittel nicht zu stark zu würzen. Gewürze galten als heiß und trocken und unterstützen somit die Eigenschaften des cholerischen Menschen. Choleriker, die zu viel Feuer zuführen, riskieren nach der Humoralpathologie eher einen „Herzinfarkt“. Fisch ist „kalt“ und „feucht“ und soll in einer Weise zubereitet werden, die „trocknend“ und „erhitzend“ war, wie frittieren oder im Ofen backen, Fischgewürze sollen „heiß“ und „trocken“ sein. Wacholderbeeren haben trocknende und wärmende Eigenschaften. Rindfleisch ist „trocken“ und „heiß“ also „feurig“. Es wird entsprechend in Wasser gekocht, um einem Übermaß an Feuer vorzubeugen. Salate sind „kalte und feuchte“ Nahrungsmittel und führen einen ausgleichenden Wasseranteil zu. Das hellere Schweinefleisch ist kühler als Rindfleisch und „feucht“ und lässt sich besser am offenen Feuer rösten, Feuer wird über die Zubereitungsart zugeführt. Dort, wo mittelalterliche Rezeptsammlungen Vorschläge für die Verwendung alternativer Zutaten machen, geben sie der Einordnung der Lebensmittel in der Humoralpathologie gelegentlich mehr Gewicht als ihrem Geschmack. Die Ärzte des Mittelalters waren immer gleichzeitig Ernährungstherapeuten. Als ideale Nahrungsmittel galten diejenigen, die als warm und feucht eingestuft wurde, die also in der Hauptsache Luftelement dem Menschen zuführen. Das Luftelement antagonisiert in erster Linie das Erdelement; da sehr viele Krankheiten aus einem Übermaß an Erde, an schwarzer Galle entstehen, ist eine solche Ernährung primär gesundheitsfördernd. Die jeweiligen Vorschläge wurden früher über Beilagen immer noch den speziellen Bedürfnissen des Konsumenten angepasst. Die einzelnen Speisen sollten fein gehackt oder püriert werden, um eine gute Durchmischung der Zutaten zu erreichen. Ein Gericht, das diese Anforderung idealtypisch erfüllte, war Blanc manger, das bis weit in die Neuzeit von der Mittel- und Oberschicht in fast ganz Europa gegessen wurde: In einer Masse aus zerstoßenen Mandeln wurden Hühnerbrüste zusammen mit Reismehl, Schmalz und Zucker gegart und anschließend zu einer Paste zerstoßen und püriert. Im Mittelalter wurde die Humoralpathologie durch astrologische Spekulationen ergänzt. Blut, das in der Leber (Plasma) aus dem rohen Pneuma der Atemluft gebildet würde, sei der konstituierende Saft der Sanguiniker und dem Element Luft, dem Morgen, dem Frühling und der Kindheit anverwandt. Einen bestimmenden Einfluss übe neben den Sternzeichen der Waage, des Wassermanns und des Zwillings auch der Jupiter aus. Gelbe Galle, die aus der Leber stamme, wird unter anderem den Cholerikern sowie dem Element Feuer, dem Sommer, der Jugend, dem Mittag und den Sternzeichen Löwe, Widder und Schütze sowie dem Planeten Mars zugeordnet. Schwarze Galle, die in der Milz produziert werde, bestimme den Charakter der Melancholiker und habe Bezug zum Element Erde, zum Abend, zum Herbst und zum höheren Erwachsenenalter sowie zu den Sternzeichen Jungfrau, Steinbock und Stier sowie zum Saturn. Schleim, der im Gehirn produziert werde, bestimme das Wesen der Phlegmatiker und wurde dem Element Wasser, dem Winter, dem Greisenalter, dem Nachmittag und den Sternzeichen Krebs, Fische und Skorpion sowie dem Mond zugeordnet.
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Quellen: Pflege und Medizin / Wikipedia